Karin Gündisch - Vorableseprobe


Lilli findet einen Zwilling

Sauerländer Verlag
im Juni 2007

 

Lilli aus Moskau und Milli aus Bayern wollen Zwillinge sein. Sie erfinden eine Kleiderordnung für Zwillinge und sind unzertrennlich. Immer wieder werden sie gefragt: Wie halte ich euch bloß auseinander? Darauf haben die Zwillinge natürlich eine Antwort: Ich bin zuerst geboren. Und ich danach.

 

 

 

(Seite 19ff)

...

An einem Montag im Mai stand eine neue Schülerin in der Tür, sah sich um und setzte sich einfach auf den leeren Platz neben mich. Sie guckte in der die Gegend herum, holte dann ein Butterbrot und einen Apfel aus der Tasche und begann zu essen. Als unsere Lehrerin in die Klasse kam, aß sie seelenruhig weiter.

Frau Müller stellte uns die neue Schülerin vor und da erst fiel ihr auf, dass die Neue, Amelie, den Mund voll hatte. Sie sah sie missbilligend an: „In meiner Klasse wird während des Unterrichts nicht gegessen!“

„Ich habe aber Hunger“, sagte Amelie und biss in ihr Brot.

„Wenn es dir bei uns nicht passt“, sagte Frau Müller streng, „kannst du gleich wieder gehen.“

Amelie aß das Brot in aller Ruhe zu Ende, holte die Tasche aus dem Pult, ging zur Tür, sagte: „Auf Wiedersehen!“, und verließ die Klasse. Frau Müller sah ihr verwundert nach, und erst als Amelie die Tür schon längst geschlossen hatte, sagte sie zu mir: „Ludmilla, hol sie sofort zurück!“

Ich ging auf den Korridor und rief: „Neue Schülerin, du sollst sofort zurückkommen!“ In der Aufregung hatte ich nämlich ihren Namen vergessen. „Äh ... Amelie, komm sofort zurück.“

Amelie drehte sich um und lachte.

„Wie heißt du denn eigentlich?“, fragte sie mich.

„Ludmilla!“

„Wie?“, fragte sie zurück, und ich wiederholte meinen Namen. Sie fand ihn komisch: „Ludmilla-Lilla-Lilli!“

Meinetwegen, dachte ich und machte dasselbe mit ihrem Namen: „Amelie-Milla-Milli.“

Milli und Lilli, das gefiel uns.

„Von wo kommst du her?“, fragte ich Milli.

„Aus Bayern“, sagte sie. „Und du, bist du von hier?“

„Nein. Ich komme aus Moskau.“

Milli fand es gut, dass auch ich von anderswo her kam und keine Freundin hatte. Sie lud mich sofort zu sich ein und schon am selben Nachmittag besuchte ich sie.

 

Milli wohnte in einer Zweizimmerwohnung in einem Studentenwohnheim für Familien, weil ihre Mutter Studentin und Alleinerziehende war. Ihr Vater studierte ebenfalls, aber er wohnte anderswo. Er kam selten zu Besuch und befand sich gerade für ein Auslandssemester in Frankreich. Milli sagte, dass sie gar nicht mehr wüsste, wie er aussah.

 

Als ich Milli zum ersten Mal im Studentenwohnheim besuchte, staunte ich nicht wenig. Sie hielt einen Hasen in der Wohnung. Er lebte in einem Käfig, der auf dem Balkon oder im Zimmer stand. Der Hase hieß Rambo. Eigentlich durfte Milli ihn in der Wohnung nicht frei herumlaufen lassen. Wenn ihre Mama aber nicht zu Hause war, ließ sie ihn aus dem Käfig raus.

Milli öffnete die Käfigtür und Rambo hoppelte auf den Teppich.

Wir passten beide auf, dass er ihn nicht zerfetzte oder die Sofabeine anknabberte. Er wetzte sich nämlich an allem die Krallen und nagte alles an, was er zwischen die Zähne bekam. Das ist für einen Hasen normal, aber er durfte es trotzdem nicht, weil es nicht ging, dass er die Wohnung ruinierte.

„Esst ihr den Rambo zum Schluss?“, fragte ich Milli, als sie ihn streichelte und zwischen den Ohren kraulte. Ich bekam die Antwort, die ich erwartete.

„Nein“, sagte Lilli ziemlich empört.

Sie ließ den Hasen los und er verschwand ins Schlafzimmer unterm Bett. Wir rannten hinter ihm her und krochen auch unters Bett, um Rambo wieder ans Tageslicht zu ziehen. Er sauste aber davon, während wir im Staub lagen und niesten. Danach holte Milli eine Bürste und wir gingen auf den Balkon, um unsere Kleider zu schütteln und zu bürsten.

„Mein Onkel in Komrat hatte zehn Hasen“, sagte ich.

Milli sah mich ungläubig an. „Wo liegt Komrat?“, fragte sie.

„In Gagausien“.

„In Gaga-was?“

„In Gagausien in Moldawien. Als ich noch ganz klein war, haben auch wir dort gewohnt.“

„So viele Hasen kann man gar nicht halten“, sagte Milli.

„Er hat sie nicht in der Wohnung, sondern im Stall gehalten“, sagte ich, „und bei unserem letzten Besuch hat der Onkel alle geschlachtet. Meine Tante hat Braten gemacht, und den haben wir beim Abschiedsfest mit den Verwandten, den Freunden und den Nachbarn gegessen.“

„Alle zehn?“, wollte Milli wissen.

„Alle!“, sagte ich.

Milli überlegte eine Weile. „Schwör mir“, sagte sie dann, „dass du in Deutschland keine Hasen isst!“

„Ich schwör es.“ Mir war der Hasenbraten gar nicht wichtig. Ganz im Gegenteil: Ich überlegte, was ich für Lilli noch tun konnte, worauf ich für sie noch verzichten könnte.

„Darf ich Huhn essen?“, fragte ich nach einer Weile.

Milli überlegte ein bisschen und sagte: „Ja. Alles außer Hase.“

„Auch Frösche und Schnecken?“, fragte ich und schüttelte mich vor Ekel.

„Ja!“, sagte Milli und schüttelte sich ebenfalls. „Habt Ihr in Moskau und in Gagausien wirklich auch Frösche und Schnecken gegessen?“

„Nein“, sagte ich. „Wir haben übrigens sehr selten Fleisch gehabt, weil es zu teuer war.“

Wir suchten Rambo in der ganzen Wohnung. Schließlich fanden wir ihn im Badezimmer, wo er gerade dabei war, den Wäschekorb anzuknabbern. Milli packte ihn am Genick. Rambo wehrte sich mit den Füßen, aber es half ihm nichts. Milli schob ihn in den Käfig. „Der ist manchmal ganz schön wild“, sagte Milli. „Aber meistens ist er friedlich und lieb.“

 ...

 

 

 

Karin Gündisch.

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